4 Software-Typologie

Um Lern- respektive Bildungssoftware beurteilen und bewerten zu konnen, ist zunächst eine Unterteilung in verschiedene Typen vonnoten. Eine Typologie geht von einem zugrundeliegendem Schema aus, nach dem Software eingeordnet werden kann. Obwohl es aus Sicht der Medienpädagogik eigentlich sinnvoll wäre, eine solche Kategorisierung nach rein pädagogischen Gesichtspunkten vorzunehmen, hat sich dennoch eine Klassifizierung nach überwiegend technischen Merkmalen bzw. der »technischen Komplexität« etabliert. Bisweilen werden selbst so unscharfe Begriffe wie »Interaktives Video« und »Multimedia« zur Kategorisierung herangezogen.[1]

Die hier verwendeten Kategorien werden in der Praxis meist nicht in reiner Form anzutreffen sein. Vielmehr ist es so, daß reale Softwareprodukte ein durchmischtes Set verschiedener der hier beschriebenen Charakteristika kennzeichnet. Im folgenden werden lediglich sogenannte »Idealtypen« beschrieben, die so in der Praxis sicher nicht anzutreffen sind.[2]

Ansonsten stützt sich dieses Kapitel aber vor allem auf die Arbeiten von Baumgartner & Payr. Sie schlagen eine handlungstheoretisch motivierte Typologie vor, die einerseits pädagogische Gesichtspunkte wie Lernziel, Lerninhalt und Lehrstrategien berücksichtigt und andererseits auch eine gewisse Praxistauglichkeit besitzt.[3]

 

4.1 Präsentations- und Visualisierungssoftware

Computergestützte Präsentationsformen sind in Zusammenhang mit den frühen behavioristischen Lernmaschinen in Verruf geraten, da solche Präsentationen in erster Linie aus textgefüllten Bildschirmseiten bestanden. Heutige Anwendungen dieses Typus haben durchaus ihre Berechtigung, z.B.:[4]

  • als Visualisierungs-Software, die komplexe Gebilde und Vorgänge modellieren,
  • als Multimediasoftware, d.h. Präsentationstechniken, die über Text und Grafik hinausgehen,
  • als Hypertext, sofern sie keine aktive Umgestaltung durch den Benutzer vorsehen.

Dieser Softwaretypus ist überall dort sinnvoll, wo herkommliche Medien wie z.B. der Papierdruck die Moglichkeiten der Darstellung einschränken.

So führen Baumgartner & Payr als Beispiel ein Lernprogramm auf, daß chemische Moleküle dreidimensional darstellt.[5] Ein weiteres Bespiel kommt aus der Chaos-Forschung, einer Disziplin, die ohne Rechneranlagen erst gar nicht entstanden wäre. Aufgrund der Komplexität und der Datenfülle chaotischer Systeme muß zur Veranschaulichung auf Visualisierungs-Software zurückgegriffen werden.

Didaktische Konzepte

Baumgartner & Payr betonen die Bedeutung der Visualisierung für die Entwicklung von Vorstellungsbildern und adäquaten mentalen Modellen im Lernprozeß. Präsentation von Inhalten und Informationen ist wohl jeder Bildungssoftware eigen: Die Parameter einer Simulation müssen ebenso dargestellt werden wie das Szenario eines Spiels oder die Objekte einer Mikrowelt. Daher hat die Übereinstimmung von mentalem Modell und Darstellung bzw. Manipulationsmoglichkeiten große Bedeutung für den Aufbau adäquater mentaler Modelle (Baumgartner & Payr sprechen in diesem Zusammenhang auch von WYSIWYG, »What You See Is What You Get«). Was nun allerdings im jeweiligen Fall als adäquat zu gelten hat ist die im Einzelfall zu treffende didaktische Entscheidung.[6]

Ein Charakteristikum des hier behandelten Softwaretypus ist die Beschränkung der Interaktion lediglich auf die Steuerung des Programms. Dagegen findet die didaktische Interaktion, das heißt die inhaltliche Transformation der Darstellung zu kognitiven Modellen, außerhalb der Software statt bzw. wird von anderen Programmodulen übernommen.[7] Dies muß nicht von Nachteil sein, da somit die Software wesentlich flexibler eingesetzt werden kann. Es bleibt dem lernorganisiertem Setting überlassen, wie dieser Softwaretypus eingesetzt wird.[8]

Es ist ersichtlich, daß Präsentationssoftware vor allem der Sammlung von Fakten dient. Somit wird also eine frühe Stufe des Lernmodells nach Dreyfus & Dreyfus angesprochen. Im Gegensatz zum kognitivistischem Lernparadigma ist hier jedoch nicht nur das Merken von (propositionalen) Regelsätzen gemeint, sondern ebenso das Aneignen von Vorstellungen und Modellen der jeweiligen Inhalte.[9]

Mit der digitalen Integration der verschiedensten Datenarten ist es moglich, Inhalte und Situationen auf die vielfältigsten Arten — zum Teil sogar gleichzeitig — zu präsentieren. Dies spielt nicht nur von der Ästhetik und der Abwechslung her eine Rolle, da nun mehr Moglichkeiten gegeben sind, komplexe Situationen verständlicher darzustellen. Gerade komplexe Lernsoftware wie Simulationen, Mikrowelten oder Spiele konnen damit eine breite Variation unterschiedlicher Formen der Darstellung anbieten und somit dem Benutzer ein Verstehen und Überblicken der Situation erleichtern. Allerdings steigt mit der Zahl der Repräsentationsformen auch die Komplexität der Bedienung, die erst erlernt werden muß. Es ist somit ein Mehr an Arbeit, das aber oftmals unumgänglich und wichtig ist, da die Bedienung selbst ein Teillernziel bilden kann (als Beispiel sei das Notensystem genannt, dessen Erlernen zwar nicht garantiert, ein guter Musiker zu werden, andererseits ein guter Musiker wohl das Notensystem beherrschen muß).[10]

Repräsentationssysteme sind systematische Deutungs- und Interpretationsschemata, die einen objektivierenden Charakter haben, d.h sie sind auch allgemeingültig. Sie werden immer dann angewendet, wenn sich bestimmte Sachverhalte mit ihnen besser und exakter darstellen lassen.[11] Oftmals geht mit der Darstellung auch eine »Komplexitätsreduktion« einher. Die Idee ist, daß zum Beispiel einem Anfänger ein Einstieg in eine komplexe Software mit wenigen Einstellungen und Kommandos ermoglicht wird und er sich dann in die umfassende Parameterisierung einarbeiten kann. Es kann auch durchaus sinnvoll sein, den verschiedenen Repräsentationsformen einer Anwendung ein eigenes, begrenztes Set an Einstellungsmoglichkeiten zuzuordnen.[12]

Sinnvoll ist ein Repräsentationssystem, wenn es sowohl aussagekräftig als auch — relativ zur betreffenden Sache — leicht erlernbar ist. Es darf keinesfalls selbst zum Lernobjekt werden, sondern es immer nur repräsentieren.[13]

 

4.2 Drill- und Testsoftware

Der in der Literatur weitaus häufiger verwendete Name für diesen Softwaretyp ist »Drill & Practice«. Doch für Baumgartner und Payr greift der Begriff »Practice« viel zu weit, da er in deren erweitertem handlungsorientierten Ansatz sowohl die Ausübung einer komplexen kognitiven Tätigkeit bedeuten kann wie auch jede Art des mechanischen Einübens von Fertigkeiten. Mit der Bezeichnung Drill- und Testsoftware ist hier jene Form der Bildungssoftware gemeint, die zur Festigung von bereits gelernten Inhalten dienen soll.[14]

Screenshot

Abb. 4.1: Beispiel eines Drill & Test-Programms. Quelle: Eigene.

Typische Programme dieser Gattung sind gekennzeichnet durch Sequenzen des Typs »Übungsaufgabe — Eingabe einer Antwort — Rückmeldung«.[15] Viele der frühen Lernprogramme folgten diesem behavioristischen Ansatz und kamen damit zu zweifelhaftem Ruf. Allerdings darf die Notwendigkeit der Übung nicht übersehen werden, seien es nun korperliche Fertigkeiten wie z.B. das Erlernen des Maschinenschreibens als auch kognitive Fertigkeiten.[16]

Software diesen Typs ist technologisch gesehen relativ leicht zu realisieren und ist daher auch schon lange Zeit verfügbar. Allerdings ist es wohl gerade den Lernumgebungen dieses Typs zu Verdanken, daß die Computertechnologie im pädagogischen Bereich noch keinen Einzug gehalten hat. Leider ist es immer noch so, daß die meisten der derzeit verfügbaren Programme dieser Gattung von minderer Qualität sind.[17]

Daß die überwiegende Zahl der kommerziellen Lernsoftware gerade dieser Kategorie angehort, hat mehr mit der geringen technischen Komplexität denn mit pädagogischen Erwägungen zu tun. Gerade die hier angesprochenen Interaktionsformen sind einfach zu programmieren und es lassen sich darüberhinaus relativ simpel — wenn auch meist fragwürdige — »Erfolgskontrollen« programmieren.[18]

Baumgartner & Payr führen als didaktisch und pädagogisch sinnvolle Beispiele die Programme Fingeralphabet, ein Programm zum Erlernen des internationalen Fingeralphabets, sowie Number Munchers (Grundrechenarten) auf.[19]

 

4.3 Tutorensysteme

Tutorielle Systeme entsprechen idealtypisch der Situation eines einzelnen Schülers mit einem Tutor oder Privatlehrer: Neue Begriffe und Regeln werden verbal bzw. anhand von Beispielen eingeführt und durch Fragen oder Aufgaben wird geprüft, inwieweit der Lerner den Lehrstoff verstanden hat.[20] Der Computer übernimmt also tatsächlich die Rolle eines Tutors, der einem Inhalte vermittelt, einübt und eventuell sogar überprüft. Entscheidend jedoch soll sein, daß dieser Softwaretypus in erster Linie kein Faktenwissen, sondern Regeln und Anwendungen, also prozedurales Wissen, vermittelt.

Von der Konzeption her handelt es sich somit um Software mit einem hohen didaktischen Anspruch.[21] In ihr sind Merkmale der Kategorien Präsentationssoftware sowie Drill- und Testsoftware vertreten. Da die tutoriellen Systeme aber eine große Bedeutung erlangt haben, sind sie hier separat aufgeführt.

Lehrstrategien, die dem Lernenden ein Problem stellen, dessen Lernziel das Verfahren zur Losung dieses Problem ist, sind der prototypische Einsatz für Tutorensysteme.[22] Je umfassender jedoch eine Problemstellung ist, desto komplexer und vielfältiger werden die moglichen Lösungsstrategien. Konventionelle Tutorensysteme mit fest programmierten Regeln und Verfahren sind damit überfordert. In der Mediendidaktik werden daher große Hoffnungen in die Forschung zur »Künstlichen Intelligenz« (KI; engl. artificial intelligence, AI) gesetzt. Sogenannte »Intelligente Tutorensysteme« (ITS), die auf Forschungen der KI aufbauen, müssen nicht nur Wissen zur inhaltlichen Seite der Problemstellung repräsentieren, sondern auch Wissen über Lehren und Lernen. Der Lernende wird vom Programm beobachtet, seine Aktionen aufgezeichnet und ausgewertet, um Wissensstand sowie die Wissenslücken des Lernenden zu ermitteln und entsprechend zu reagieren.[23] Ein idealtypisches Merkmal intelligenter tutorieller Systeme ist also ein nicht eindeutig vorgegebener Lernweg.[24]

Nur die intelligenten tutoriellen Systeme konnen dem hier gemeinten Idealtypus »Tutorensystem« entsprechen. Der Entwicklungsaufwand solcher Systeme ist allerdings enorm hoch, wie auch die Schwierigkeiten zur Formalisierung notwendigen »Lehr-Expertentums«.[25] Daher sind ITS vor allem in der Forschung zu finden.[26] Kommerzielle Produkte wie Lisp Tutor (Einführung in die Programmiersprache LISP) und Geometry Tutor (geometrische Beweise) sind derzeit die Ausnahme.[27]

 

4.4 Simulationen

Mit Simulationsprogrammen wird eine Veranschaulichung komplexer Sachverhalte und Situationen auf z.B. naturwissenschaftlichem, okonomischem, ökologischem oder sozialem Gebiet veranschaulicht.[28] Sie beruhen auf mathematisch definierten und parameterisierten Modellen meist recht hoher Komplexität.

Dem Lernenden stellt sich die Aufgabe, durch gezielte Manipulation von Parametern ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen. Da die Parameter des Systems jedoch in Beziehungen zueinander stehen, hat die Maximierung eines Faktors meist auch — unerwünschte — Auswirkungen auf andere Faktoren. Es gilt also, die Wechselwirkungen eines Systems herauszufinden und aufgrund der gemachten Erfahrung situativ optimale Einstellungen zu ermitteln.[29]

Bezeichnend für Simulationen ist die nicht statische und nicht determinierbare Ausgangssituation einer Handlung. Das System ändert sich laufend, was eine schrittweise Handlung nach erlernten Regeln unmoglich macht. Es kommt vielmehr darauf an, die Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen und, wie Baumgartner und Payr betonen, »...sich auf sie motivational einzulassen.«[30] Lernziel ist die Bewältigung komplexer Situationen auf dem Niveau von Gewandtheit oder Expertentum (siehe Kapitel 3.5).[31]

Software diesen Typs ist recht häufig anzutreffen. In der Wirtschaft wird sie ebenso eingesetzt (z.B. Was-wäre-wenn-Analysen) wie auch in der Ausbildung (z.B. Unternehmensplanspiele). Auch haben sich eine Reihe von Spielen auf Simulationsbasis als regelrechte »Klassiker« etabliert. Eines der bekanntesten Simulationsspiele dürfte wohl SimCity bzw. SimCity 2000[32] sein (Sinn des Spiels ist es, eine Stadt aufzubauen). Ein besonders komplexes Spiel stellt SimEarth dar, das Baumgartner und Payr ebenfalls besprechen (der Spieler wird mit der Entwicklung eines ganzen Planeten betreut)[33] sowie SimAnt (ein Ameisenvolk muß einen Garten nebst dazugehorigem Haus für sich gewinnen),[34] das als Paradebeispiel für die Integration der hier vorgestellten Typologien dienen kann.[35]

Didaktische Konzepte

Ein Problem von Simulationen besteht in ihrer Komplexität. Nutzer einer solchen Software konnen leicht mit der Fülle an einzustellenden Parametern, zu beobachtenden Entwicklungen die ihrerseits eine Reaktion erfordern und der Verfolgung der unterschiedlichsten Wechselwirkungen überfordert sein. Hier bietet sich eine Komplexitätsreduktion anhand von »Szenarien« an, die eine bestimmte Ausgangssituation anbieten. Ihre Parameterisierung ist eingeschränkt, so daß dem Anwender der Einstieg erleichtert wird.[36]

Die Entwicklung einer Simulation bietet unterschiedliche Ansätze: Werden nur wenige Parameter einer Situation modelliert, so ist die Komplexität gering. Sie eignet sich besonders dazu, die Wechselwirkungen einiger Parameter zu ergründen. Eine wesentlich komplexere Modellierung gewährt dagegen Einblicke in eine Situation ohne Vorhersagbarkeit, ohne gesicherte Regeln und Erkenntnisse.[37]

Erwähnt werden soll noch der differenzierte Umgang mit Zielen. Komplexe Systeme erlauben es, einzelne Aspekte auszuklammern oder nur einige wenige Teilaspekte zu beachten. Während einer Simulation konnen positive und negative Ziele verfolgt werden, es konnen globale Ziele gesteckt oder auch ganz spezifische Ergebnisse zu erreichen versucht werden. Weiter werden noch unklare und klare Ziele, einfache und mehrfache Ziele sowie implizite und explizite Ziele unterschieden.[38]

Simulationen wie auch die im folgenden Kapitel noch zu behandelnden Mikrowelten konnen häufig auch als Spiel verstanden werden. Da aber eine Anwendung je nach Kontext als Lernprogramm oder als Spielsoftware verstanden wird, macht es wenig Sinn, noch eine zusätzliche Kategorie »Spielsoftware« einzuführen. Wichtiger ist vielmehr eine Unterscheidung in Play (Spielzeug) und Game (Spiel). Während ein »Spiel« Gewinnsituationen fest definiert, fehlen diese einem »Spielzeug« ganz oder sie sind zumindest nicht eindeutig definiert. Bei Simulationen und Mikrowelten handelt es sich meist um den zweiten Spieltypus; Gewinnsituationen müssen hier oftmals erst konstruiert und ausgehandelt werden, je nach Zielspezifikation kann es durchaus mehr als einen Gewinner geben.[39]

Sozialpsychologisch sind beide Spieltypen für die Entwicklung der Personlichkeitsstruktur in der Kindheit von größter Bedeutung. In der Rollenübernahme auf der »Play«-Stufe wird die signifikante Rolle spezifischer Bezugspersonen gelernt. Kinder konstruieren in diesen Rollenspielen soziale Realität und erlernen den Umgang mit diesen Situationen. Sie erleben sich in verschiedenen Rollen und konnen sich daher in verschiedener Weise sehen.[40]

 

4.5 Mikrowelten und Modellbildung

Gegenüber Simulationen gehen Mikrowelten noch einen Schritt weiter. Anstatt wie in einer Simulation eine bestimmte Situation lediglich zu repräsentieren, wird der Lernende vor die Aufgabe gestellt, eine solche Situation erst einmal erschaffen zu müssen. Desweiteren ist der Anwender gehalten, seine eigenen (Lern-) Ziele zu definieren.[41] In einer solchen »Welt«, die aus veränderbaren Eigenschaften besteht, werden »Experimente« konstruiert, angeordnet und durchgeführt. Allen Objekten sind bestimmte Eigenschaften zugeordnet, die manipulierbar sind. Die Aufgabe besteht nun nicht mehr nur darin, eine komplexe Situation zu bewältigen, sondern sie zu modellieren, das heißt eine Welt zu konstruieren.

Mittlerweile tragen nicht nur die Erkenntnisse aus der KI-Forschung zur Entwicklung von Mikrowelten bei, sondern verstärkt auch Ergebnisse der Forschungsrichtung Künstliches Leben (KL; engl. artificial life, AL). Ein noch recht junges Softwarebeispiel ist das Computerspiel Creatures, das den Nutzer vor die Aufgabe stellt, quasi mit gottlicher Hand in die Entwicklung einer Spezies steuernd einzugreifen.[42]

 

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